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Das grosse Schweigen

Irene Genhart, Cineman (Switzerland), November 2003




In «Uzak» schildert Nuri Bilge Ceylan die Begegnung zweier Verwandter, die sich einst nahe standen, sich aber durch ihr unterschiedliches Leben in der Stadt und auf dem Land entfremdet haben. Eine Betrachtung über die Unabdingbarkeiten des (Einsam) Seins und gleichzeitig ein Nachruf auf den Schauspieler Mehmet Emin Toprak.

Schnee knirscht. Ein Mann überquert ein verharschtes Schneefeld. Er kommt aus dem Dorf hinter ihm und ist arbeitslos unterwegs nach Istanbul, wo er auf einem Schiff anzuheuern gedenkt. «Uzak» («Distant») hat Nuri Bilge Ceylan seinen dritten Spielfilm überschrieben. Er stellt damit den letzten Teil einer Trilogie vor, welche die Unterschiede zwischen Stadt und Land thematisiert und um zwischenmenschliche Beziehungen kreist.

1999 hat er in «Mayis Sikintisi» («Clouds of May») erzählt, wie ein Filmregisseur aus der Stadt aufs Land fährt, um einen Film über seine Eltern und das Leben in seinem Heimatdorf zu drehen. In «Uzak» kehrt der Regisseur die Konstellation um: Der Dörfler Yusuf schlüpft auf Jobsuche bei einem in Istanbul lebenden Verwandten, dem Fotografen Mahmut, unter. Die beiden sind Mitte dreissig, kommen aus dem selben Dorf, doch das Leben hat sie einander fremd werden lassen.

Mahmut (Muzaffer Özdemir) hat seine Pläne, einmal Filme im Stil Tarkovskis zu drehen, längst beerdigt. Seit der Scheidung beschränkt sich sein Liebes- und Sexualleben auf kurze Rendez-vous mit einer Prostituierten. Er hat kaum Freunde, kümmert sich nicht um seine Familie, und wenn er nicht arbeitet, zappt er sich gelangweilt durchs TV-Programm. Dagegen wirkt Yusuf (Mehmet Emin Toprak), obwohl finanziell in einer weit schlechteren Situation, weltoffener und sozial kompetenter. Er geht auf Jobsuche, passt sich Mahmuts Eigenwilligkeiten weitgehend an und kümmert sich per Telefon um die Zähne seiner alten Mutter.

Unter dem Siegel gesellschaftlicher Gepflogenheiten gestaltet sich das Zusammensein der beiden Männer anfänglich einigermassen angenehm. Doch je länger Yusuf keinen Job findet, je länger er bleibt, desto weniger haben sich die beiden zu sagen und desto gespannter wird die Atmosphäre.

«Uzak» ist ein Film der Bedächtigkeit, der sich minutenlang Zeit nimmt, eine fast leere Strasse oder die Veränderung im Gesichtsausdruck eines Schauspielers zu beobachten. Gleichzeitig herrscht eine Exaktheit, die vor allem die Tonspur prägt. Statt der gängigen Musiksosse gibt es genau beobachtete Geräusche zu hören: Ein Tropfen, ein feines Klingeln, knirschenden Schnee.

Obwohl Mahmut, unschwer als das alter Ego des Regisseurs zu erkennen, die Idee, Filme wie Tarkovski zu drehen, aufgegeben hat: Nuri Bilge Ceylan kommt der magischen Atmosphäre, welche die Filme des russischen Meisters einmalig macht, mit «Uzak» verblüffend nahe. Am Filmfestival in Cannes 2003 wurde sein Film neben Gus van Sants «Elephant» einer der grossen Sieger. Er gewann nicht nur den Grand Prix, Muzaffer Özdemir und Mehmet Emin Toprak wurde auch gemeinsam der Preis für den besten Schauspieler zugesprochen. Feiern konnte allerdings nur Özdemir - Toprak kam tragischerweise kurz zuvor bei einem Autounfall ums Leben.